Dieser Beitrag widmet sich der Vereinbarkeit von universitären Verpflichtungen, der Jobsuche und dem Privatleben von Studierenden in Japan. Der folgende Bericht wurde vom Bachelorstudierenden Marcel Kübert im Rahmen des von Mirco Heller geführten STM-Seminars „Wenn ich nur Zeit hätte – Die (Un)Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Japan“ verfasst.
Japanische Universitäten als sichere Häfen?
Der Historiker Christopher Lasch prägte in seinem Buch ‚Haven in a Heartless World‘ das Bild eines sicheren Hafens und stellte das Zuhause und die Familie als Rückzugsort für das arbeitende Individuum dar. Dieses Bild wurde bisher bereits hinlänglich – insbesondere aus einer feministischen und genderwissenschaftlichen Perspektive heraus – dekonstruiert, weshalb das Verständnis von Hausarbeit, Erziehungsarbeit und weiteren häuslichen Verpflichtungen als Care-Arbeit immer mehr Anerkennung findet. Doch trotz der wissenschaftlichen Aufarbeitung bleibt die Metapher in den Köpfen verankert, weshalb sichere Häfen noch immer ausgerufen werden. So sind es in Japan die Universitäten selbst, denen oft nachgesagt wird, für japanische Studierende ein Refugium zu sein, an dem man sich noch einmal ausleben kann, bevor man in die harte Arbeitswelt geworfen wird. All das Lernen im japanischen 6-3-3-System kulminiert und entlädt sich in der Eintrittsprüfung für die auserkorene Universität mit möglichst hohem Prestige. Doch sind die vier Universitätsjahre wirklich bloß ein langes Aufatmen nach den Torturen der Juku (塾, Nachhilfeschule) und Yobikō (予備校, Vorbereitungsschule) und dienen dem Luftholen für den notwendigen langen Atem in der japanischen Firma? Sind die Hochschulen nur eine von Erlebniskonsum und Selbstfindung geprägte Phase der Präadoleszenz? Allein die Tatsache, dass man in Japan wohl wenige Artikel mit der Überschrift „Bachelor und was nun?“ finden wird, gibt einen ersten Hinweis darauf, dass es sich hier um ein Vorurteil handelt. Blickt man nämlich genauer auf die vier Jahre der Universität, erkennt man, dass auch die Universitätsjahre großen Druck auf die Studierenden ausüben.
Keine Zeit für Sakura!
Für einen Tokyoter Studierenden dürfte die Kirschblüte zur Zeit des Übergangs vom dritten in das vierte Studienjahr höchst ambivalente Gefühle auslösen. Denn im April ist in Anbetracht der bevorstehenden Bewerbungsphase für einen Job sicherlich wenig Zeit für ausgelassene Stimmung beim Hanami (花見, Blütenschau). Der Bewerbungsprozess in Japan erfordert eine akribische und vor allem frühzeitige Vorbereitung, um sicherzustellen, dass mit dem Abschluss im März des vierten Jahres ein nahtloser Übergang zum Arbeitsbeginn Anfang April bei der zukünftigen Firma gewährleistet ist. Dieses zeitlich reglementierte System der Jobsuche, das mit steigender Akademisierung Japans mittlerweile primär auf Studierende zugeschnitten ist, wird als Shūshoku Katsudō (就職活動) bezeichnet. Für Studierende, die Karriere machen wollen oder einfach ein sicheres Beschäftigungsverhältnis anstreben, ist dies immer noch der beste Weg, eine Anstellung in einem guten Unternehmen zu finden. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass Shūshoku Katsudō weiterhin stark in Verbindung mit der Idee einer lebenslangen Beschäftigung steht. Dies veranlasst einige Forschende zu der Annahme, dass bei erhöhter Fluktuationsrate auf dem japanischen Arbeitsmarkt die hegemoniale Stellung des Shūshoku-Systems starke Einbußen verzeichnen könnte und zu einem Wandel desselben führen könnte (Schaede 2020). Doch ob und wie sich das System verändern wird, bleibt abzuwarten. Zunächst sollte man die Frage stellen, was shūshoku katsudō überhaupt zu einem solchen Schreckensgespenst für viele Studierende macht.
Wenn ich nur Zeit hätte – die Unvereinbarkeit von Universität und Jobsuche.
Zurückzuführen ist das stark institutionalisierte System auf die HR-Firma Recruit und den Unternehmensverband Keidanren, der über 1.500 japanische Firmen repräsentiert und als der einflussreichste Wirtschaftsverband Japans gilt. Das System entstand zur Zeit des Wirtschaftsaufschwungs der 1950er Jahre, in der Unternehmen möglichst effizient neues Humankapital langfristig an das Unternehmen binden wollten. Besonders in den 1990er Jahren etablierten sich so starre Standards, dass die Firma Recruit ein eigenes Handbuch mit dem richtigen Dresscode, der richtigen Frisur und den richtigen Floskeln bei der Arbeitssuche herausbrachte. Viele weitere Ratgeber von diversen Agenturen für ein erfolgreiches Job Hunting sollten folgen. Man etablierte eine Schablone und die Studierenden mussten sich zurechtschneiden. In den vielen Stunden des Selbststudiums mit den einschlägigen Ratgebern fanden sich jedoch nicht nur Instruktionen zur richtigen Anzugs- und Krawattenfarbe oder dem idealen Lächeln auf den Bewerbungsfotos, sondern auch Tipps zu den einzelnen Phasen der Bewerbung.
Bevor es zur Bewerbung kommt, ist neben der Lektüre der Handbücher von großer Wichtigkeit, dass sich Studierende Informationen über potenzielle Arbeitgeber:innen beschaffen. Die meisten nutzen hierfür mittlerweile das Internet und holen Informationen auf den Webseiten der einzelnen Unternehmen ein oder lassen sich Informationsmaterial zuschicken. Eine traditionellere und fest verankerte Praxis sind darüber hinaus sogenannte Setsumeikai (説明会, Informationsveranstaltungen), die entweder in den jeweiligen Firmen selbst, an ausgewählten Universitäten – was unter dem Aspekt der Exklusivität einzelner Universitäten in der Kritik steht – oder in großen Messehallen stattfinden. Die Phase der Lektüre, Informationsbeschaffung und Messebesuche gilt als äußerst zeitintensiv, geht über mehrere Monate und findet schon im dritten Studienjahr statt. Man muss das System regelrecht studieren, um die wirtschaftlich konstruierte Rolle des oder der perfekten Bewerber:in zu verkörpern. Im Hinblick auf die Genderstudies lassen sich hier einige Parallelen zur Performativitätstheorie feststellen. Performativität bezieht sich dabei auf die Idee, dass Identitäten (z. B. die der Frau) und Rollen nicht einfach gegeben sind, sondern durch wiederholte Handlungen und Darstellungen erzeugt und bestätigt werden (Butler 1991).
Die meisten Studierenden wissen deshalb bereits im dritten Jahr genau, wie sie sich in der Übergangsphase zu ihrem letzten Universitätsjahr zu verhalten haben. Die weiteren Stationen sind: Die Abgabe des Entry Sheets, das Ablegen eines Online-Tests und schließlich das Durchlaufen mehrerer Interviews. Indem Unternehmen feste Bewerbungszeiträume und -vorgaben etablierten, konnten sie an Planungssicherheit gewinnen, während Studierende sich unabhängig von ihren individuellen Curricula anpassen müssen. Dies führt zu zahlreichen Fehlstunden in den Kursen sowie zu einer immensen Doppelbelastung. Je nach persönlicher Situation, etwa durch einen Nebenjob oder Verpflichtungen in einem Bukatsu (部活, universitärer Klub), kann dies in eine Phase der Angst und des konstanten Gestresstseins münden. Über Monate hinweg müssen Studierende dutzende bis hunderte Bewerbungen schreiben – und das zumeist handschriftlich –, sich stundenlang auf Messen präsentieren, in vielen Bewerbungsgesprächen die privatesten Dinge über sich preisgeben und sind der Willkür der Firmen ausgesetzt. So kommt die englische Übersetzung des Wortes Shūshoku Katsudō mit Job Hunting der Beschreibung der vorherrschenden Dynamiken viel näher als das deutsche Wort Arbeitssuche. Doch wer jagt hier überhaupt wen? Angesichts der strikten Vorgaben seitens der Unternehmen stellt sich die Frage, ob die Studierenden in diesem zermürbenden System überhaupt noch als aktive Subjekte agieren oder ob die Firmen nicht vielmehr als dominierende Akteure das Geschehen steuern. Während an dieser Stelle deutlich sein sollte, dass in dieser Phase wenig Zeit für das eigentliche Studium übrig bleibt, möchte ich betonen, dass die Arbeitssuche für Studierende auch aus einem anderen Grund keine Zeit des Aufatmens und der Entspannung ist.
Diskriminierung, Owahara und Shūkatsu Utsu.
Sei es Owahara (おわハラ, Druck seitens einer Firma auf den Bewerber, alle anderen Bewerbungsverfahren fallen zu lassen), Shūkatsu Utsu (就活うつ, Depressionen aufgrund der Arbeitssuche) oder auch Gakureki-Filter (学歴フィルター, der Ausschluss von Bewerbern aufgrund eines als unzureichend erachteten akademischen Hintergrunds) – in den japanischen Medien kursieren zahlreiche Begriffe zum Thema Jobsuche, die auf systematische Probleme hinweisen. Gerade Diskriminierung innerhalb des Shūshoku-Systems offenbart sich in vielerlei Formen: elitärer Exklusivismus, Genderungleichheit, Altersdiskriminierung und auch akademische Diskriminierung. Eine umfassende Analyse der verschiedenen Diskriminierungsarten kann dieser Artikel nicht leisten, jedoch möchte ich besonders für Frauen auf die negativen Effekte von Intersektionalität aufmerksam machen. Was bedeutet Intersektionalität? Das Konzept hat seine Ursprünge im Black Feminism und der Critical Race Theory und betont, dass verschiedene Diskriminierungen aufgrund von z. B. Gender, Ethnizität, sozialer Klasse, Alter usw. nicht isoliert betrachtet werden sollten, sondern dass diese Formen der Diskriminierung sich aufeinander auswirken und ganz neue Arten und Qualitäten von Diskriminierung entfalten (vgl. ZHdK-Zürcher Hochschule der Künste, o. D.). Im Folgenden möchte ich kurz illustrieren, dass es Frauen nicht nur schwer haben, Karriere zu machen, sondern bereits der Einstieg in eine Firma über besagtes System aufgrund von Intersektionalität erschwert wird.
Forschende wie Yoshio Sugimoto haben bereits umfassend herausgearbeitet, dass Japan eine Leistungsgesellschaft ist, die großen Wert auf das Prestige der jeweiligen Institutionen legt (Sugimoto 2014). Das Durchlaufen besonders renommierter Universitäten wirkt sich daher positiv auf die Arbeitssuche aus. Diese Annahme findet Ausdruck in dem japanischen Begriff Gakureki Shakai (学歴社会, Bildungsgesellschaft) aus. Akademische Diskriminierung bei der Jobsuche wird in Japan deshalb oft als Gakureki-Filter bezeichnet, also das gezielte Aussortieren von Firmen nach dem Prestige der besuchten Universität der Bewerber:in. Eine Person, die die renommierteste Universität Japans – die Tokyo Universität – besucht hat, müsste nach diesem Prinzip leichter an einen guten Arbeitsplatz gelangen. Ein Blick auf die Geschlechterverteilung zeigt jedoch, dass nur 20% der Studierenden sich dem weiblichen Geschlecht zuordnen. Warum ist das so? Verkürzt gesagt sorgen viele strukturelle Geschlechterungleichheiten für diesen geringen Anteil an Frauen an Japans höchster Bildungsstätte. Natürlich haben auch sozioökonomische Faktoren einen großen Einfluss darauf, ob man es überhaupt auf die Eliteuniversitäten schafft.
Die Arbeitssuche ist also ein Kampf gegen Diskriminierung, der besonders stark die weibliche Bevölkerungsgruppe trifft. Daneben leiden Studierende bei der Jobsuche auch darunter, dass Unternehmen den Studierenden Druck machen, bis sie jegliche weitere Jobsuche aufgeben und ihr Jobangebot annehmen (Owahara). Wenig verwunderlich ist bei all dem deshalb das Aufkommen des Trendwortes Shūkatsu Utsu, also Depressionen als Resultat der Arbeitssuche, das mittlerweile als soziales Problem anerkannt wird. Die Universität ist für Studierende deshalb keinesfalls ein sicherer Hafen, denn der Alltag vieler ist besonders gegen Ende der Studienzeit von Angst, Erwartungen und enormem Druck geprägt. Den Universitätsabschluss muss man dabei ganz nebenbei auch noch schaffen.
Literaturverzeichnis:
Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991.
Hashimoto, Y. (2015): ‘Shūshoku undō’ kara ‘shūshoku katsudō’ he. Soshite ‘shūkatsu’ he [From shūshoku undō to shūshoku katsudō and to shūkatsu]. In: Nihongogaku, 34(6), S. 54–65.
Hochschild, Arlie Russell (2006): Keine Zeit: Wenn die Firma zum Zuhause wird. München: Piper.
Lasch, Christopher (1977): Haven in a Heartless World. New York: Basic Books.
Mathews, Gordon (2004): Seeking a Career, Finding a Job: How Young People Enter and Resist the Japanese World of Work. In: Goodman, Roger; Imoto, Yuki; Toivonen, Tuukka (Hg.): Japan’s Changing Generations: Are Young People Creating a New Society? London: Routledge, S. 121-137.
Mladenova, D. (2020): Optimizing One’s Own Death: The Shūkatsu Industry and the Enterprising Self in a Hyper-aged Society. In: Contemporary Japan, 32(1), S. 103–127.
Pilz, Matthias (2011): „Analyse und Zusammenfassung: Vorbereitung auf und Übergang in die Welt der Arbeit“. In: PILZ, Mathias (Hg.): Vorbereitung auf die Welt der Arbeit in Japan. Bildungssystem und Übergangsfragen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 274 – 293.
Schaede, Ulrike (2020): The Business Reinvention of Japan: How to Make Sense of the New Japan and Why It Matters. Stanford: Stanford University Press.
Shibata, Mari (2019): Why Japan’s ‘shūkatsu’ job-seeking system is changing. URL: https://www.bbc.com/worklife/article/20190731-why-japans-shkatsu-is-disappearing-for-japanese-youth [Stand: 29.06.2024].
Sugimoto, Yoshio (2014): An Introduction to Japanese Society. 4. Edition, Cambridge: Cambridge University Press.
Zürcher Hochschule der Künste (n.d.): Intersektionalität. URL: https://www.zhdk.ch/forschung/ehemalige-forschungsinstitute-7626/iae/glossar-972/intersektionalitaet-5892 [Stand: 29.06.2024].
Ein Bericht von Marcel Kübert.