Studierendenberichte

Kimonos im Westen – Kulturelle Aneignung oder kulturelle Wertschätzung? – Ein Bericht von Sonja Reinecke

Der vorliegende Text wurde von unserer Bachelor-Studentin Sonja Reinecke im Rahmen des Moduls „Sprache und Praxis“ verfasst.

Kulturelle Aneignung. Ein Begriff, der im Zeitalter der Globalisierung und sozialen Medien immer wieder zu Diskussionen führt. Dabei kommen einem Skandale, wie die kulturelle Falschdarstellung und den Ausschluss von ethnischen Minderheiten in Film-, und Fernsehklassikern, wie Disney’s „Pocahontas“ oder der US-amerikanischen Serie „Bezaubernde Jeannie“ in den Sinn. Auch gibt es empörte Aufschreie über Parodien von Bevölkerungsgruppen und deren traditionelle Kleidung, wie mexikanische Ponchos oder die beeindruckenden Federtrachten der indigenen Bevölkerung der USA, beispielsweise in Form von Halloween Kostümen. Die Diskurse sind zahlreich und die öffentliche Ahndung erscheinen teilweise gravierend. Ein immer wiederkehrender Gegenstand dieser Diskurse und Objekt häufiger Falschdarstellung ist auch ein traditionell japanisches Kleidungsstück, der Kimono. Schon Stars wie Katy Perry und Nicki Minaj ernteten harsche Kritik für ihr Kimono „Kostüm“ (O’Dwyer 2015: 3) bei Konzertauftritten. Nach seiner Popularisierung in den 1960er Jahren erlebte der Kimono einen bemerkenswerten Anstieg des Interesses in der Öffentlichkeit und der Modebranche (vgl. Milhaupt 2014: 239). Der Kimono als typisch japanisches Kleidungsstück rückte mithin immer mehr in den Fokus der Modewelt. Auch im Westen ist die Faszination bis heute groß. Doch wo hört die Wertschätzung auf und wo fängt die kulturelle Aneignung eines jahrhundertealten Brauches an? Um in diesen Diskurs angemessen einsteigen zu können und damit auch alle auf dem gleichen Stand sind, möchte ich zuerst ein Grundgerüst schaffen, in dem ich näher auf den Kimono, seine Herkunft und seine ethnische Signifikanz, sowie kulturelle Aneignung als Konzept der Moderne eingehe.

Eine kurze Einführung des Kimono und seiner Geschichte

Was kommt zuerst in den Sinn, wenn man das Wort „Kimono“ hört? Heutzutage findet man das Kleidungsstück häufig in Film, Fernsehen und sogar auf Modeseiten in Form von „Kimono-Style-Roben“. Das sind die mehr kommerziellen Auftritte des Kimonos. Die Ursprünge gehen währenddessen bis ins 8. Jahrhundert zurück.

Das japanische Wort „Kimono“ (jap.: 着物) besteht aus den Schriftzeichen für (Kleidung) „tragen“ (jap.: 着る, oder kiru) und „Ding/Sache“ (jap.: 物, oder mono) und lässt sich ins Deutsche übersetzen als eine „Sache, die man trägt“. Der Kimono besteht aus geraden Stoffbahnen, die eine baumstammartige Stoffröhre für den Körper bilden. Die Ärmel sind lange Rechtecke, die einen großen Kontrast zu den Ärmeln, die man bei der meisten westlichen Kleidung findet, bilden. Die ersten Hinweise auf ein Kleidungsstück, das dem Kimono, wie man ihn heute kennt, entspricht, findet man in der Heian-Zeit (794-1185), als es von der Aristokratie als Unterkleidung verwendet wurde. Genannt wurde diese Kleidung zu dem Zeitpunkt noch kosode (dt.: „kleine Ärmelstulpen“), aufgrund ihrer kleinen Öffnung für die Hände in Kontrast zu den langen Ärmeln. Mit den Jahren entwickelte sich der kosode zu einem äußerst beliebten Kleidungsstück der Aristokratie, das ab der Kamakura-Zeit (1185– 1333) auch als äußeres Kleidungsstück popularisiert wurde. Damit wurden auch die Stoffe dekorativer und nachdem in der Momoyama-Zeit (1568–1603) die Bezeichnung kosode gleichbedeutend mit dem heutigen „Kimono“ wurde, erlebten Kimono in der Edo-Zeit (1603-1868) einen Höhepunkt mit neuen Designs, die sich bis heute großer Beliebtheit erfreuen. Mittlerweile trugen auch die „gewöhnlichen“ Leute Kimono (vgl. Mori 2012: 117-9). Ab den 1850er Jahren wurde der Kimono auch im Westen bekannter, wobei hier die fälschlichen Assoziationen zwischen Kimono, Geishas und Kurtisanen entstanden, die ebenfalls bis heute in gewissem Maße fortbestehen (vgl. Milhaupt 2014: 114). So festigte sich im 20. Jahrhundert die Faszination für den Kimono im Westen, wobei Terry Milhaupt feststellt, dass die Exotik des Kleidungsstücks und seiner assoziierten Kultur den kulturellen Hintergrund überschattete. Ob als Souvenir, oder als Sammlerstück, von da an repräsentierten Kimono unweigerlich „Japan, wie es sich sein Besitzer vorstellt, nicht wie es in einem japanischen Kontext gelebt wird“ (Milhaupt 2014: 158–9).

The transition from kosode to kimono. Illustrations © Misa Sato (Ausschnitte)

Mori & Dickens (2012): (121) Unklar, aus welchem Jahr die Publikation stammt. Zwei Unterschiedliche Angaben im Portfolio

 

Kulturelle Aneignung: Ein Konzept der Moderne?

Zu diesem Konzept möchte ich hier ein Zitat von Lars Distelhorst anführen, da er das Konzept sehr gut kompakt zusammenfasst:

Als kulturelle Aneignung wird gemeinhin ein Vorgang verstanden, bei dem Menschen aus einer dominanten Kultur sich, ohne Haltung der Betroffenen dazu zu beachten, Kulturelemente aus einer diskriminierten oder unterdrückten Kultur aneignen, wodurch deren Bedeutung verschoben oder verflacht wird. (Distelhorst 2021: 21)

Die Ursprünge des Begriffs findet man in der postkolonialen Theorie. Eine der ersten Auseinandersetzungen mit der Thematik stammen aus einem Aufsatz des Kunstkritikers und -professors Kenneth Coutts-Smith, „Some General Observations on the Problem of Cultural Colonialism“ aus dem Jahr 1976. Dort stellte Coutts-Smith vor dem Hintergrund der afrikanischen Dekolonisierung fest, dass Kultur nicht als isoliertes Konzept verstanden werden könne, sondern immer zu einer bestimmten Geschichte und Geografie gehöre und die Aneignung von kulturellen Kunstgegenständen ein Versuch der Legitimation des Kapitalismus sei. Man entferne betroffene Gegenstände künstlich von ihren Ursprüngen und integriere stilistische Aspekte mit seiner eigenen Kultur. Ein Beispiel dafür sei Napoléons Ägyptenfeldzug, wo kulturell bedeutsame Gegenstände zum Zweck der Aneignung ihres Stils entwendet wurden. Anders gesagt habe Napoléon Bonaparte schon kulturelle Aneignung betrieben, weil ihm ägyptische Kunst so gefiel, dass er sich selbst damit bereichern wollte. Coutts-Smith geht dabei sogar so weit festzustellen, dass man bei genauerer Betrachtung der europäischen Kunstgeschichte zu dem Schluss kommen könne, dass es mehr Aneignung als Schöpfung gegeben habe. Die Debatte, wie man sie heute in den modernen Medien kennt, hat sich dann in erster Linie seit den 1980er Jahren entwickelt. Dort standen die Kulturen schwarzer Menschen und Native Americans in den USA im Mittelpunkt. Hier kommt der Fokus wieder auf Disneys Pocahontas, wie am Anfang schon erwähnt wurde. Der indigen inspirierte Hit-Film von Disney war auch zu dieser Zeit schon ein großes Thema. Klischeehafte Darstellung der indigenen Charaktere und daraus resultierendes vermarktbares Merchandise, das die Benachteiligung der Native Americans oftmals komplett ignorierte. Distelhorst geht so weit, diese Art von kultureller Aneignung als eine Art alltäglichen Rassismus zu bezeichnen (vgl. Distelhorst 2021: 21-22).

Kimono im Westen: Kulturelle Aneignung, oder kulturelle Wertschätzung?

Die Kombination aus dem Kimono und der Debatte um kulturelle Aneignung wird an einer Stelle ganz besonders gut auf einen Punkt gebracht: Die Kontroverse um den Kimono Wednesday im Boston Museum of Fine Arts (MFA). Beim Kimono Wednesday präsentierte das MFA den Besuchern eine interaktive Komponente zu Claude Monets Gemälde La Japonaise aus dem Jahr 1876. Es zeigt eine europäische Frau, Camille Doncieux, in einem roten uchikake kimono, einem Überkimono für Hochzeiten. Gäste konnten anfangs ein Replika des prachtvollen Stückes anziehen und damit vor dem Gemälde Bilder machen.

Ankündigung des „Kimono Wednesday“ auf dem Facebook des MFA

Quelle: https://www.bbc.com/news/blogs-trending-33450391

Schnell erntete das Museum starke Kritik und Proteste fanden um das Gemälde statt. Das MFA würde durch diese essentialisierende Sicht auf die japanische Kultur veraltete Werte und Glaubenssysteme fördern, die Rassismus durch kulturelle Aneignung und kulturelle Unempfindlichkeit begünstigen. Unter dem Hashtag #DecolonizeOurMuseums forderten die Protestanten das Museum vor Ort und auf Social Media auf, die Ausstellung zu stoppen, da die Repräsentation der japanischen Kultur unzureichend und einseitig sei (vgl. Ikegami 2015; Carringer 2018: 175). Und durchaus lassen sich direkt konkrete Parallelen zwischen den dekorativen Vorlieben von Napoleon und den Fashion-Bildern von Touristen im uchikake erkennen. Eine „fremde“, „exotische“ Kultur, die sich gut als Deko und auf Bildern macht. Nach einigem kritischen Feedback stoppte das MFA die Kimono Anprobe der Kimono Wednesdays und stellten den Hochzeitskimono lediglich in einer Vitrine neben Monets Bild aus. Neben einer öffentlichen Entschuldigung kündigten die Verantwortlichen des Museums auch ein mögliche zukünftige Fachkonferenz zum Thema kulturelle Aneignung an, um in Zukunft besser mit dem Thema umgehen zu können.

Sieht dann das Fazit also so aus, dass es Nicht-Japanern gänzlich verwehrt ist, einen Kimono zu tragen? Dies scheint mir nicht der Fall zu sein. Zahlreiche Youtube Channels haben das Thema behandelt, ob Japaner ein Problem damit haben, dass Ausländer und Touristen Kimono tragen. Viele Channel wie „Let’s ask Shogo | Your Japanese friend in Kyoto“, „That Japanese Man Yuta“ und „Yuu’s Adventures“ haben Interviews mit Ortsansässigen in Japan geführt und das Ergebnis mag als ausländischer Kimono-Enthusiast erleichternd sein. Die überwältigende Mehrheit der Befragten äußern sich außerordentlich positiv gegenüber Ausländern in Kimono. Es sei ein Zeichen der Begeisterung für die nationale Kultur und deshalb sehr schmeichelhaft (Yuu 2023: 0:06-0:52).

Aber wo liegen jetzt die Richtlinien und Einschränkungen? Wie können Menschen die Kimono-Kultur im Ausland so präsentieren und ausleben, dass es eine angemessene Repräsentation einer so vielschichtigen Tradition darstellt? Dieser Schwierigkeit stellen sich auch den Mitgliedern des Kimono Clubs der Heinrich Heine Universität, unter der fachkundigen Leitung von Rebecca Hardijanto und Roxanne Draeger. Als Mitglied des Clubs habe ich die vielen Facetten des Kimono sowohl in unseren wöchentlichen Treffen als auch bei zahlreichen Veranstaltungen beigebracht bekommen; darunter Ausstellungen im Düsseldorfer Hetjens-Museum, Kimono Shows auf dem Meerbuscher Kirschblütenfest oder Anproben auf Deutschlands größter Anime- und Japan-Expo in Düsseldorf.

Dokomi Düsseldorf 2023                                                  Kirschblütenfest Meerbusch 2023

Quelle: Foto der Autorin                                             Quelle: Foto der Autorin

Unterstützung bei solchen Veranstaltungen erhalten wir regelmäßig von Ruth Jäschke, einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin des Eko-Hauses und ehemaligen Kulturreferentin im japanischen Generalkonsulat Düsseldorf. „Es gibt […] fachkundige Nicht-Japaner, die […] das Interesse mitbringen und sich entsprechend in diesen Bereich eingearbeitet haben. Das gilt z.B. für die Mitglieder des Kimonoclubs der HHU, die einen Kimono besser anlegen können als viele Japanerinnen.“, sagt sie. Sie hat Kimono das erste Mal auf einem Tempelflohmarkt in Kyoto kennengelernt und war sofort verzaubert. In enger Zusammenarbeit mit zahlreichen japanischen Experten, sowie mit den Experten des Kimono Clubs, baute sie sich ihre eigene Expertise über Jahre auf. Aus ihrer Erfahrung erzählt sie, dass viele Japaner, obwohl sie die alten Kimono-Traditionen noch immer sehr schätzen würden, aufgrund des hohen Aufwands oder schlicht fehlenden Kenntnissen nicht pflegen würden. Die Unterscheidung zwischen kultureller Aneignung und kultureller Wertschätzung von Kimono im Westen ist schwierig festzumachen. Dem stimmt auch Jäschke zu. Ist es nun kulturelle Aneignung, wenn Leute Kimono als Teil eines Kostüms beim Japantag tragen oder bietet es einen Erstkontakt mit der Kultur, der Interesse schüren kann? „[E]ntscheidend sind der Respekt und das ernsthafte Interesse für die entsprechende Kultur, die normalerweise mit einer gewissen Anstrengung und der Bereitschaft, sich zu informieren und zu lernen, verbunden sind“, argumentiert Jäschke:

„Wer einen Kimono nur verwendet, weil er ein möglichst auffälliges, buntes Selfie auf seinem Instagram-Account platzieren oder ein Produkt erfolgreich bewerben möchte, ohne sich mit dem Kimono als Kleidungsstück und Teil der japanischen Kultur zu beschäftigen und ohne auf die erforderlichen Utensilien und das korrekte Anlegen zu achten, der lässt es an Respekt und damit an Wertschätzung fehlen. Das sehe ich kritisch.“

Und das ist letztlich der Schlüsselpunkt der großen Diskussion. Was hat das MFA scheinbar falsch gemacht, was der Kimono Club der HHU richtig macht? Die Auseinandersetzung mit der Thematik „Kimono“ ist eine ganz andere. Die Protestanten in Boston kritisierten, dass der Kimono Wednesday nur einen uchikake ohne weitere Aufklärung oder Utensilien stellte, um damit sehr plakative Touristenfotos zu machen und die Besucher nicht anleitete, die verklärenden stereotypen Darstellungen des Japanonismus nicht kritisch zu reflektieren. Der Kimono Club setzt sich währenddessen aktiv für eine differenzierte und möglichst vielfältige Darstellung des Kleidungsstücks und seiner Trageweise ein. Im Rahmen des Clubs soll bei Mitgliedern das Interesse, das Wissen und die Freude am Kimono geweckt und gefördert werden, um eine geschätzte Tradition weiterzuführen, die selbst in Japan nach und nach zu verblassen scheint. So erfreuen sich die Erscheinungen und Angebote des Clubs großer Beliebtheit. Nicht nur bei Deutschen, sondern auch bei Japanern.

Medien

Let’s ask Shogo | Your Japanese friend in Kyoto (2022): Kimono Sensei’s Opinion On Foreigners Wearing Kimono ft. Kimono-Sunao. YouTube. https://youtu.be/fBbwhSy9e3k [Stand: 07.07.2024]

That Japanese Man Yuta (2016): Can Foreigners Wear Kimono? (Japanese Opinion Interview). YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=0pXotxxYFlk [Stand: 07.07.2024]

Yuu‘s adventures (2023): Japanese Reactions to Foreigners Wearing Kimono – Is this Cultural Appropriation? -Japanese Interview. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=39U4LWRZa14 [Stand: 07.07.2024]

Literatur

Carringer, Michelle Liu (2018): No ‘Thing to Wear’: A Brief History of Kimono and Inappropriation from Japonisme to Kimono Protests. Theatre Research International.

Distelhorst, Lars (2021): Kulturelle Aneignung. Edition Nautilus.

Grinko, Margarita (2018): Kimono – Zeitlose japanische Mode.

URL: https://oryoki.de/blog/kimono-japanische-mode. [Stand: 18.06.2024]

Ikegami, Kentaro (2015): Kimono and Controversy: What the Boston MFA got wrong, National Coalition Against Censorship. URL: https://ncac.org/news/blog/kimonos-and-controversy-what-the-boston-mfa-got-wrong#:~:text=MFA%20was%20criticized%20for%20its,apologized%20and%20modified%20the%20exhibit. [Stand: 07.07.2024]

Milhaupt, Terry Satsuki (2014): Kimono: A Modern History. Reaktion Books

Mori, Makoto & Dickens, Pip (2012): History and Techniques of the Kimono. Shibusa: Extracting Beauty (pp. 117-134). Huddersfield, United Kingdom: University of Huddersfield Press.

O’Dwyer, Shaun (2015): Of Kimono and Cultural Appropriation. The Japan Times, 4. August 2015.

URL: https://www.japantimes.co.jp/opinion/2015/08/04/commentary/japan-commentary/kimono-cultural-appropriation/ [Stand: 30.07.2024].

 

Ein Bericht von Sonja Reinecke.

 

Anmerkungen der Redaktion:

Kulturelle Aneignung ist ein weites und vielschichtiges Thema, daher sollte dieser Beitrag nicht so gelesen werden, als würde er den Begriff und die damit im Zusammenhang stehenden Diskussionen und Diskurse vollständig abdecken. Er ist vielmehr ein Versuch unserer Studierenden, sich dem Thema zu nähern, und sollte auch nur als solcher verstanden werden.