Bachelor Plus, Highlights

Bachelor Plus 5 Questions

Wie wir bereits berichtet haben, ist der zweite Jahrgang der Bachelor Plus Studierenden aus Japan zurück und hat zum laufenden Wintersemester das Studium in Düsseldorf wieder aufgenommen. Während des einjährigen Studienaufenthaltes in Japan haben Ute Blazejak, Thilo Böwer, Sarah Ferchau, Ulrike Miglo und Stephanie Segener spannende Feldforschungsprojekte durchgeführt, über die wir natürlich Näheres erfahren möchten! Daher haben wir unsere Studierenden zum Interview gebeten. Wie auch beim ersten BA+ Jahrgang, werden sich in den nächsten Wochen hier alle BA+ Studierenden unseren neugierigen Fragen stellen. Den Anfang in unserer Reihe macht Ute Blazejak, die ein Jahr an der Chiba Daigaku studiert und im Rahmen des BA+ geforscht  hat.

Paradiesische Zustände an der Tôkyô Sudbury School?

Das in den westlichen Medien verbreitete Bild des japanischen Schulsystems ist weitgehend einseitig: Die Kinder müssen demzufolge von morgens bis abends lernen, sind strikten Zwängen und Regeln unterworfen und haben dadurch kaum Möglichkeiten ihre Individualität auszudrücken. Dass es, wie in eigentlich jedem anderen Industrieland auch, auch alternative Schulformen gibt, wird kaum beachtet. Dies war für unsere Studierende Ute Blazejak ein Grund, sich eine solche alternative Schule einmal genauer anzuschauen. In ihrem Projekt forscht Frau Blazejak zu Chancen und Möglichkeiten einer japanischen Free School und hat hierzu als Volunteer an der Tôkyô Sudbury School mitgeholfen und mit Schülern und Mitarbeitern gesprochen bzw. Interviews geführt.  Die Tôkyô Sudbury School wurde im Jahr 2009 gegründet und orientiert sich in ihrer Lehrweise an den US-amerikanischen Sudbury-Valley-Schools.

BA+: Frau Blazejak, damit wir uns besser vorstellen können, um was für eine Art von Schule es sich bei der Tôkyô Sudbury School handelt, können Sie uns mal erklären, worin sich eine Free School von einer „normalen“ Schule unterscheidet?

Im Allgemeinen könnte man sagen, dass eine Free School den Schwerpunkt mehr auf die Individualität der Kinder legt. Sie sollen sich in der Schule ohne großen Leistungsdruck frei entfalten können. Zwänge wie Schuluniformen oder festgelegte Frisuren gibt es nicht. Das „Anders Sein“ wird an einer „Free School“ als etwas Natürliches angesehen und die Schüler sind immer in der Lage, sich Beratung und Hilfe von Lehrkräften und Betreuern zu holen. Es gibt lediglich Grundregeln, jedoch keine festgelegte Schulordnung. Die Kinder sollen mit Unterstützung ihre eigenen Ideen und Ziele durchsetzen. Zwischen den Lehrern und Schülern soll kein autoritäres Verhältnis herrschen. Stattdessen sollen die Lehrer die Kinder bei ihrer individuellen Wegfindung unterstützen. Eine „Free School“ stellt sowohl ein „Auffangbecken“ als auch eine „Alternative“ dar.

BA+: Für Ihre Forschung waren Sie ja als Volunteer an der Tôkyô Sudbury School, um einen besseren Einblick in die Abläufe an der Schule zu erhalten. Wie wurden Sie denn von Schülern und Lehrern an der Schule aufgenommen?

Von den Angestellten wurde ich sehr herzlich aufgenommen. Man war bemüht, mir den Einstieg so angenehm wie möglich zu bereiten und war im Allgemeinen sehr nachsichtig mit mir. Ich wurde so viel wie möglich in außerschulische Aktivitäten eingebunden, wie Tee-Treffen unter den Angestellten, Veranstaltungen, bei denen die Schule vorgestellt wurde, oder die Jahresendfeier. Alle waren sehr dankbar, dass ich Interesse an der Schule zeigte.

Bei den Schülern war es manchmal etwas schwierig. Am Anfang hatten die meisten Angst vor mir und haben sich von mir fern gehalten. Ich war neu und mein Japanisch war nicht das Beste – zumal es schwieriger ist, mit Kindern zu reden, da sie keine Rücksicht auf die mangelnden Sprachkenntnisse nehmen, was die Kommunikation deutlich erschwerte. Es hat einige Zeit gedauert, bis die Kinder – vor allem die Mädchen, die Jungen hatten bis zuletzt kaum Interesse an mir – auftauten. Es war oft so, dass ich zur Schule fuhr und mir Sorgen machte, dass ich stundenlang alleine auf einem Sofa sitzen würde, da die Kinder alle mit sich selber oder miteinander beschäftigt sind.

BA+: Letztendlich haben Sie anfängliche Schwierigkeiten aber gut gemeistert und durch den regelmäßigen Aufenthalt an der Schule auch zu den Kindern einen guten Kontakt herstellen können, wie Sie uns im BA+ Projektkolloquium berichtet haben! Erzählen Sie doch mal, wie ein normaler Montagmorgen an der Tôkyô Sudbury School aussieht?

Bei der Tôkyô Sudbury School gibt es keine Stundenpläne. Ein Tag an der Tôkyô Sudbury School unterliegt lediglich der folgenden Grundstruktur:

Um 10:00 ist Schulbeginn. Um 11:15 ist Zeit für ein so genanntes Morning Meeting: Falls es irgendwelche Dinge gibt, die die Schüler und/oder Angestellten besprechen möchten, findet ein Meeting statt, die Teilnahme ist aber freiwillig. Ab 15:00 beginnt dann die Vorbereitung für das Aufräumen der Schule: Jeden Tag werden die Schüler zu verschiedenen Orten des Schulgebäudes eingeteilt, um dort aufzuräumen und zu putzen. Danach gibt es gegen 15:20 noch ein Evening Meeting und um 16:00 ist dann Schulende.

Bis auf diese Grundstruktur kann man nicht genau sagen wie ein „normaler“ Montagmorgen aussieht. Es kommt darauf an, worauf die Schüler und Angestellten Lust haben. Manchmal wird ein Film geguckt, oder es wird in den
Park gegangen, oder man kocht etwas, oder jedes Kind beschäftigt sich selber damit, worauf es gerade Lust hat.

BA+: Aus Schülerperspektive hört sich das ziemlich angenehm, um nicht zu sagen paradiesisch an!  Sehen Sie denn auch Nachteile für Schüler, die die Tôkyo Sudbury School absolviert haben?

Wie ich durch meine Beobachtungen feststellen konnte, nutzen die meisten Schüler die Zeit an der Schule nicht zum Lernen, sondern zum Spielen. Dies sehe ich als problematisch an, wenn man später studieren oder einen Beruf ausüben möchte, da man im Vergleich zu Schülern einer „normalen“ Schule wissenstechnisch im Nachteil ist. Weiterhin gibt es neben zwei Angestellten und den Volunteers keine weiteren richtigen Lehrer an der Schule, wodurch die Lernmöglichkeiten sehr stark eingegrenzt sind. Möchte ein Kind zum Beispiel Englisch lernen, ist es darauf angewiesen, dass ein Volunteer  da ist, der Englisch sprechen und auch lehren kann. Weiterhin könnte ich es mir als problematisch vorstellen, dass Kinder, die es ihr ganzes Leben lang gewöhnt waren, selber entscheiden zu können, wann sie was tun, sich in der Arbeitswelt oder auf einer höheren Schule nur sehr schlecht oder vielleicht auch gar nicht einleben können.

BA+: Nach den Eindrücken und Erkenntnissen, die Sie während Ihrer Feldforschung an der Tôkyô Sudbury School gesammelt haben, würde uns als letztes noch interessieren, ob Sie zu Ihrer Schulzeit selber gerne eine Free School besucht hätten?

Ja und Nein. Natürlich hat es mich in der Schule öfters gestört, dass ich Dinge lernen musste, an denen ich überhaupt kein Interesse hatte, während Dinge, an denen ich sehr viel Interesse hatte, nicht genügend gelehrt wurden. Aus diesen Gründen wären die Freiheiten, die eine Free School bietet, sehr schön gewesen. Allerdings hätte ich mir persönlich durch den Besuch einer Free School auch Zukunftschancen genommen. Vor allem in Deutschland ist das Bildungssystem immer noch sehr steif und streng. Durch den Besuch einer Free School hätte ich mir wahrscheinlich die Chancen, eine Universität zu besuchen, verringert oder erschwert. Außerdem werden die „normalen“ Schulen vom Staat oder von der Kirche finanziert und haben daher sowohl in Bezug auf außerschulische Aktivitäten als auch auf die Fächerauswahl mehr zu bieten und professionellere Lehrkräfte als Free Schools. Außerdem bezweifle ich, dass ich als Kind wirklich immer ausreichend gelernt hätte, wenn das nicht jemand vorgeschrieben oder kontrolliert hätte…

BA+:  Frau Blazejak, vielen Dank für diesen spannenden Einblick in eine ziemlich unbekannte Schulform und damit eine andere Perspektive auf das japanische Bildungssystem!

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